Tour des Tartes

Die «Tour des Tartes» – eine Wanderung auf den Spuren der Tartes aux Abricots – und vielen Lebensfragen – von Champéry nach Champex.
Die verschiedenen Elemente der Wanderung können sehr gut einzeln genossen werden.

Ein Hauch von Rosmarin, ein wunderbar-knuspriger Mürbeteig, dicht belegt mit wirklich reifen Aprikosen: so wird die Tarte (oder Gâteau) aux Abricots zu einem kulinarisch-philosophischen Leitrezept. Eine Tour auf den Spuren der Tartes.

Die grossen Fragen des Lebens zeigen sich gerne im Kleinen. Zum Beispiel an einem Aprikosenkuchen. Die einfachste Art: Teig, Früchte, Backen. Fertig. Kein Schnickschnack, nichts Überflüssiges. Die Realität. Nun wäre diese aber ja nicht immer ganz einfach zu ertragen – also ergänzen wir die Realität mit einem Hauch von Betörung: etwas Rosmarin (oder auch Thymian) versetzen die Sinne in einen Rausch. Die «Luxusvariante»: etwas Schlagrahm dazu. Dann ist da die vermeintliche Steigerung des Luxus: wer es sich leisten kann, mischt Eier und Crème fraîche, etwas Zucker, und so wird die Tarte aux Abricots zum Statussymbol: seht her, ich vermag Eier und «Nidle», nicht einfach nur Früchte. Doch mit der Zeit wird die an sich billige Frucht zum Luxusgut, während wir in einer Eier- und Milchschwemme leben. So sagt sich der findige Geschäftsmann: Mehr Guss, weniger Frucht, bringt mir mehr – und so entstand die Aprikosenkuchen-Variante, der Grossverteiler: einsam treiben einige Aprikosenhälften im Quarkguss.

Die Tartes aux Abricots mit Rosmarin hat sich vor Jahren in meinem Gedächtnis festgesetzt und ist nicht mehr aus dem Kopf zu vertreiben. Die Erinnerung an jenes Stück Aprikosenkuchen, vor Jahren, am Lac du Moiry. Es waren diese reifen Früchte, mit denen der Kuchen dicht belegt war, die Glasur und der Hauch von Rosmarin. Gibt es das auch anderswo? Die Suche nach einem ebenbürtigen Wunderwerk öffnet gleichzeitig den Blick auf aktuelle Zukunftsfragen, ist Balsam für Seele und Körper. Schon die Fahrt zum Startpunkt in Champéry ist ein Erlebnis. Von Aigle überquert das Bähnchen das Rhonetal, und alle Vorurteile werden bestätigt: Autobahn, Tankstellen, Aprikosengärten und etwas heruntergekommene Einkaufszentren prägen das Bild. Ab Monthey windet sich die Bahn langsam den Berg hinauf und taucht ein ins wilde Val d’Illiez. Ebenso wild wie das Tal ist die Zersiedelung: hier sind wir wirklich im Wallis… Immerhin ist der moderne Triebwagen aus dem Hause Stadler gut klimatisiert…

Hinauf nach Barme

Beim Bahnhof in Champéry verkündet das Café auf der Tafel die freudige Nachricht: Tartes aux Abricots. Wie der Ort, so die Tarte: ausgerichtet auf Massentourismus, Gewinnoptimierung: Gewinn kommt vor Qualität. Der Fruchtfaktor ist kaum über 50 Prozent, der Rest ist billiger Guss, hellgelb-krank seine Farbe, aber sicher ziemlich kalorienhaltig. Eine Aprikosenwähe à la mode du Kantine oder Billigbäckerei. Nein, dieser Kuchen hat nichts mit dem gesuchten Wunderwerk zu tun, also wird losmarschiert, aus dem Skigebiet, das auf Sommer macht, raus, hinauf Richtung Hochtal von Barme.
Diese kurze, knapp zweistündige Wanderung lässt erahnen, was das Leben ausmacht: steile, schweisstreibende Aufstiege, tiefe Abgründe, die es zu vermeiden gilt, herrliche Ausblicke in die Weite, wundervolle Blumen unmittelbar am Wegrand, die nur beachtet werden müssen. Der Weg ist steil, steiler, noch steiler, biegt um einen Felsensporn – und da öffnet sich plötzlich eine Ebene. Das Hochtal von Barme ist eine Idylle. Nach wenigen Metern entschädigt die «Cantine de Barmaz» die Mühen des Aufstieges. Die Gastgeber Valérie und Olivier Demange wirten hier schon seit 11 Jahren, sie bieten Produkte der Hochebene und aus dem Tal an, sind – nicht nur für Walliser Verhältnisse – äusserst zuvorkommend, gastfreundlich. Olivier kommt urspünglich aus den Vogesen, und ist seit letztem Dezember stolzer Doppelbürger…

Und ja, die erste Tarte aux Abricots ist fällig. Dieses Orange! Ein eindeutig hausgemachter Teig, ein dichter Früchtebelag, der Verzicht auf einen «Guss», dafür eine wunderbare Glasur «aux Abricots». Was fehlt: der Rosmarin. Aber auch so ist der Kuchen aus gut gereiften Früchten ein Gedicht. Genauso wie das Abendessen später, ein Rindsvoressen, das auf der Zunge zergeht, dazu schlichte Pasta und selbst angebautes Gemüse. Formidable. Für die Übernachtung hat es einfache Zimmer, aber immerhin, kein «Dortoir». Das Frühstück zeugt von grosser Achtsamkeit und einem Sinn für höchste Qualität.

Zwischen Dents du Midi und Mont Ruan

Blick zur Hochebene von Barme und zum col de Bretolet

Gestärkt starten wir unsere Tour hinein in einen Sonnenmorgen peu à peu, langsam geht’s aufwärts zum Signal de Bonavau. Der Blick öffnet sich hin zum Col de Bretolet, einem der wichtigsten Alpenübergänge für Zugvögel. Schon lange betreibt die Vogelwarte Sempach dort eine hochalpine Beringungsstation. Wir befinden uns an der Grenze zur EU, die aber kaum sichtbar ist. Unsichtbare Trennlinien sind manchmal am schwierigsten zu überwinden.
Vor uns liegen die Dents du Midi, rechts die Tête des Ottans. Und gegen Nordosten das Rhonetal. Zwei Adler kreisen auf unserer Höhe, in geringem Abstand ziehen die beiden Vögel ihre Kreise. Bereits folgt ein Abstieg von rund 200 Höhenmetern, und wir sind im Refuge de Bonavau. Zeit für eine Tarte? Christine, die Gastgeberin, macht einen etwas weniger mürben Teig, sie backt diesen blind für wenige Minuten, mit gehacktem Rosmarin darauf verstreut. Auch sie verwendet hervorragende Früchte und geizt nicht damit. Quel plaisir.

Des Moutons «hyperfort» bei Susanfe

In der Cabane de Susanfe, bei der Hüttenwartin Fabienne, ist die Betreuung fürsorglich, und die Tarte aux Abricots ist trotz etwas einfacherer Herstellung ebenfalls hervorragend. So darf es weitergehen. Nichts ist bis anhin von der Walliser Schroffheit und Abgezockheit zu spüren.

Haute Cime avec Bouquetins

Was hält der nächste Tag für eine Tarte bereit? Wir wissen es nicht. Durch das Hochtal wandern wir hinauf auf den Col de Susanfe. Von hier aus kann die Haute Cime der Dents du Midi ohne Kletterkenntnisse erklommen werden. 750 Meter geht’s dafür steil das Gröllfeld hinauf. Auch hier wieder die Grundsatzfrage: was kann ich mir zumuten, wann überfordere ich mich, oder ist es nur die Faulheit, die zum Umkehren verleitet? Ziemlich ausgesetzt ist der Hang. Beim Col des Paresseux wartet ein junger Steinbock. Der Col macht seinem Namen alle Ehre, kehren hier doch viele angesichts des Schlussaufstiegs wieder um. Wobei es manchmal gescheiter ist, umzukehren, wenn der Nebel den Gipfel verhüllt. Das hat viel mit Selbstreflexion und wenig mit Faulheit zu tun.
Vom Col de Susanfe führt der Weg hinunter Richtung Lac de Salanfe. Auch hier geht’s wieder durch steile Felsbänder, Trittsicherheit ist gefragt, Schwindelfreiheit, aber eine traumhafte Blumenwiese entschädigt für diese Strapazen. Von weitem sichtbar ist die Auberge de Salanfe bei der Staumauer. Eine ehemalige Arbeiterunterkunft, jetzt sowohl auf der Tour des Dents du Midi (TDM) als auch auf der Tour du Mont Blanc (TMB) ein vielgewählter Rastort. Dank frühzeitiger Reservation haben wir es geschafft, noch ein Zimmer zu bekommen – in den Dortoirs drängen sich je an die 30 Menschen.
Während wir die Zimmer mit den Balkons zu schätzen wissen, ist die die Tarte aux Abricots eine Enttäuschung. Typ Backfabrik, wenig Früchte, viel Guss, merci bien. Dafür ist der Walliser-Teller sehr grosszügig, der Käse von der Alp schmeckt vorzüglich, und das Gewitter am Abend bietet Spektakel pur.

Bähnchenparadies

Lac d’Emosson heisst das Ziel des nächsten Tages. Während meine Mitwandernden Richtung Col d’Emaney und Col de Barberine losmarschieren, wandere ich von der Staumauer von Salanfe das Vallon de Van hinunter Richtung Les Marecottes. So verpasse ich zwar ein Refuge mit Tarte aux Abricots, ich verpasse eine ganze Steinbockherde, Murmeltiere, Gämsen – und natürlich, den Blick auf den Mont Blanc, der vom Col de Barberine her «exquisite» sein muss.
Aber – dafür darf ich Bähnchen fahren. Zuerst mit der Bahn, die von Martigny nach Chamonix fährt bis knapp vor die Grenze, beim Kraftwerk von Le Chatelard. «Verticalpes» heisst das, was mir nun bevorsteht: zuerst eine Standseilbahn mit bis zu 87 % Steigung, 700 Höhenmeter in knapp zehn Minuten nach Les Montuires. Dann die «Mont-Blanc» Panoramafahrt in der ehemaligen Transportbahn beim Staudammbau zur Staumauer, ein Minibähnchen auf einem schmalen Felsbalkon, mit offenen Wagen, der Zugführer sitzt lässig auf seiner Lok, obwohl die Felswand nebenan hunderte Meter abfällt. Gemächlich zuckelt das Bähnchen Richtung Staumauer-Fuss, zur Linken erheben sich die Aigulles du Chardonnet, die Aigulles Vertes, die Aigulles … der Grandes Jorasses und natürlich der Mont Blanc. Bilder für das Hirnalbum. Schliesslich führt eine Kabinen-Standseilbahn nochmals 150 Meter gefühlt senkrecht hinauf zur Staumauerkrone und zum Restaurant.
Und da: statt Tarte aux Abricots bin ich im Myrtilles-Land angekommen. Der Teig ist knusperig, aber nicht zu hart, die erste Schicht auf dem Teig sind eingekochte Früchte, darauf frischer Heidelbeerkompott. Von der Grösse der Beeren zu schliessen: keine Zuchtbeeren…Fantastique.
Von der Staumauer gelangt man in ca. 1 h zu Dinosaurier-Spuren in den Felsen, hinauf zum alten Lac d’Emosson und weiter zu immer wieder andern Aussichten auf den Mont Blanc und seinen Aiguilles. Die Gletscher haben sich weit zurückgezogen. Nach einem gemütlichen Spaziergang dem See entlang und einem lokalen Bier geht’s wieder hinunter nach Le Châtelard. Dort müssen wir vom Bahnhof hinunter zur Kantonsstrasse nach Martigny, weil das Postauto nur dort fährt. Wir staunen ob dem riesigen Barackendorf. Das Kraftwerk und die Staumauer werden generalüberholt. Die Arbeiter kommen aus Ungarn, Polen, Rumänien, der Tschechei… Es sind mehrere hundert, die hier an der hintersten Ecke der Schweiz dafür sorgen, dass unsere Infrastruktur funktioniert. Was ist uns diese Infrastruktur wert? Wem gehört sie?
In wenigen Minuten erreichen wir Trient. Hier sind wir nun vollends mitten auf der TMB, es wird Englisch gesprochen. Die Auberge du Mont-Blanc ist ein Massen- ereignis. Die ehemaligen Hotelzimmer sind mit engen Schlafstellen vollgepfercht, statt Tartes aux Abricots gibt es verpackte Chips… Das Fondue ist eine zähe Brühe, die Löffelweise über Brot und kartoffeln geleert wird. Auf das Frühstück verzichten wir angesichts der langen Schlange bei der Essenausgabe und der verpackten Biscuits. Wir flüchten aus der Wandermasse, nehmen den Bus auf den Col de la Forclaz, und geniessen da echte Gastfreundlichkeit. Der Kellner ist ein französischer Secondo mit arabischem Einschlag.

Fenêtre d’Arpette und Génepi

Entlang der Bisse du Trient

Die Tour des Tartes führt entlang der Bisse du Trient zum Trient-Gletscher vorbei an der Cabane du Glacier hinauf zum Fenêtre d’Arpette. Glacier und Plateau du Trient entschädigen für die Mühsahl vor dem steilen Abstieg ins Val d’Arpette hinunter und nach Champex.
Eine Alternative bietet die Route auf der nördlichen Seite des «Génepi». Und: hier sind wir am Ziel der Suche angelangt. Auf der Alpette du Bonvin, die von drei Frauen geführt wird, stehen in der Alphütte fünf riesige Tartes aux Abricots mit Rosmarin. Die Gedächtnissynapsen schlagen Purzelbäume. Das ist die vertiable Tarte aux Abricots. Entzückt und beschwingt gehts in den 700metrigen Abstieg, und jeder Schritt macht froh, diese Strecke nicht in umgekehrter Richtung zu wandern wie die Gruppe Japaner, die mit Sonnenschirmen und Masken vor Mund und Nasen im Aufstieg ist. In Plan de l’Au trübt hingegen wieder die typische «Gastfreundschaft» des Wallis die Stimmung: Vorgefertigte Erdbeertörtchen werden angeboten, kein «Plättli», «seulement manger sur la terasse»… also los, weiter die letzten Kilometer nach Champex.
Hier werden wir im Hotel du Glacier dafür wieder verwöhnt. Erstmals wieder Zimmer mit eigener Dusche, und das Nachtessen ist ein Traum. Mit einer Wanderung in die Cabane d’Orny schliesst die Tour des Tartes. Der alte Sessellift bringt uns hoch nach La Breya. Auf dem Rückweg, im Relais d‘ Arpette, gibt’s nochmals eine ganz spezielle Tarte aux Myrtilles, und auf dem Weg von da der Bisse entlang zurück nach Champex fallen mir die frischen Heidelbeeren fast von selbst in den Mund. Ich bin definitiv vom Aprikosen- im Heidelbeerland angekommen. Zum Schluss gibt’s einen «Génepi». Wo, wenn nicht hier, wo der Berg mit demselben Namen über dem Dorf wacht.

Die Etappen:
Barme – Cabane de Susanfe: http://t1p.de/6vxa
Susanfe – Lac de Salanfe: http://t1p.de/7366
Lac de Salanfe – Lac d’Emosson: http://t1p.de/n66j
Col de la Forclaz – Champez via Bonvin (einfach): http://t1p.de/vqog
Col de la Forclaz – Champex via Fenêtre d’Arpettes: http://t1p.de/553b

Unterkünfte:
Cantine de Barmaz: http://cantine-barmaz.com/
Cabane de Susanfe: https://susanfe.ch/
Auberge du Salanfe: https://www.salanfe.ch/de/
Col de la Forclaz: http://www.coldelaforclaz.ch
Hotel du Glacier: http://www.hotelglacier.ch/